Zeitzeugen: Almut Hupe (Jhg. 1934) erinnert sich gern an ihre Kindheit im Quartier an der Rembertikirche in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Heute wohnt sie im Gete-Viertel.
Lange habe ich mit mir gezaudert: Sollte ich meine vielen schönen und auch traurigen Erlebnisse von Rembertikirchhof und Fedelhören niederschreiben? Aber nach meiner Generation, wer wird sich da noch an den Rembertikirchhof und sein Umfeld erinnern?
Der Rembertikirchhof und seine Nebenstraßen waren ein Viertel für sich. Es gab dort alles, was der Mensch brauchte. Im Zentrum unsere wunderschöne Rembertikirche, dahinter das Pastorenhaus, wo in den unteren Räumen der Jugendkreis sich traf. Lebensmittel, Hausrat, Optiker, Zigarrengeschäfte, Apotheke, Gaststätte und Handwerker jeglicher Art, es fehlte an nichts. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Korbmacherei Lotze, das Schirmgeschäft Schaper, die Bremer Bank, das Obstgeschäft Hillers, das Elektrogeschäft Schenkemeyer, die Tischlerei Roese, das Butter- und Käse-Geschäft von Lienen und viele mehr. Rechts von meinem Elternhaus, der Gaststätte Howe am Rembertikirchhof 5, befand sich das Gemeindehaus der Kirche, das den Krieg überstanden hat. Dort traf sich der Chor, dem ich etliche Jahre angehörte. Oder ältere Mitglieder von der Rembertigemeinde hatten dort ihre kleinen Zusammenkünfte.
Weiter hinter der Kirche lag der Toreingang zum Pröven, dem St.-Remberti-Stift. Trat man dort ein, fiel der Blick im Sommer direkt auf eine große Rotbuche. In meinen Kindertagen diente sie uns als Regenschutz, oder es wurde dort auch leise gesprochen. Wenn wir lieb und artig uns verhielten, erlaubte uns der Stiftvogt das Dortsein. Oft kam es auch vor, dass wir für die alten Stiftdamen kleine Besorgungen machten. Als Belohnung gab es 20 Pfennig, wofür wir Kinder uns Bonbons oder Kuchenrinden kauften.
Es gab aber auch Zeiten, wo die kleine Rasselbande Unfugmachte. Kleine Zweige wurden in die Klingel gesteckt. Einmal hatte einer der größeren Jungen eine etwas komische Idee: Herr Husemann, der Stangeneismann, hatte mit seinem Pferdefuhrwerk vor unserer Haustür gehalten. Während der langen Wartezeit der Pferde ließ eines seine Äpfel fallen. Schnell sammelten wir sie in einem Eimer auf und taten sie in einen Schuhkarton. Der wurde nun irgendwo in Pröven vor einem Haus deponiert. Mit Geschenkbändchen, versteht sich. Und dann wurde gewartet, bis jemand gespannt das Päckchen öffnete.
Wenn der Eiswagen kam, fielen häufig kleine Eisstückchen auf die Straße. Schnell griffen wir Kinder danach, es war eine Leckerei in der Sommerzeit. Mal eben ein Eis kaufen, wie es heute der Fall ist, das kannten wir nicht. Unbekannt war uns auch das heutige Jammern über verschmutzte Straßen. Unsere Straßen waren sauber, jeder Bremer kehrte häufig vor seiner Tür, schrubbte oder reinigte die Stufen sogar mit Bimsstein. Bremen war eine schöne, saubere Stadt.
Autoverkehr gab es noch nicht. Pferdefuhrwerke bevölkerten unsere Straße. Wenn es nicht die Pferdewaren, so die Kinder. Mit Spielen wie Tauschlagen, von einer Straßenseite zur anderen, Prell- und Völkerball, Kreiselschlagen, Hinkepinke, Murmelpiksen, Versteckspielen und anderem mehr.
Unsere Verstecke waren meistens die Büsche von der Rembertikirche. Aber wir durften nicht zu laut sein, sonst gab es Ärger mit dem Küster, und wir wurden verjagt. Der Spielplatz war die Straße. Zu Ostern 1939 schenkten mir meine Eltern ein großes schweres Osterei. Welch Überraschung: Hervor kamen Gummirollschuhe auf Kugellager. Die meisten anderen Kinder hatten nur eiserne Rollschuhe. Mit meinen fünf Jahren konnte ich die Gummirollschuhe gleich unterschnallen. Meine Freude war riesig. Meine Rollschuhe haben die beiden Kriege nur überlebt, weil ich sie später mit zu den Pflegeeltern nahm. Anfang des vergangenen Jahres schenkte ich sie dem Focke-Museum, das sie mit Freude annahm.
Allwöchentlich kamen die Pferdefuhrwerke der Union-Brauerei zum Rembertikirchhof. Mein Vater hatte die Woche über Brot gesammelt, und wir Kinder durften den Pferden die Brotknüste in den Lederfresssack geben. Ein Bierfahrer setzte mich einmal auf ein Riesenpferd. Ich hatte große Angst und wollte schnell wieder herunter. Oft schaute ich als kleines Mädchen den Reitern im Fedelhören zu, streichelte die Pferde und war glücklich dabei.
Der Krieg kam mit all seinen Schrecken. Die Soldaten bekamen Kurzurlaub, um vielleicht zu heiraten oder in einem Todesfall. Wenn eine Hochzeit bevorstand, kam Pastor Schomburg und fragte meine Mutter, ob meine Schwester und ich die Schleppe tragen oder vielleicht Blumen streuen könnten. Schnell wurden wir von unserem Mädchen feingemacht. Unser Kindermädchen ondulierte mit der Brennschere meine Haare, dekoriert mit einer großen Haarschleife oder einem Kranz auf dem Kopf.
Die Glocken läuteten. Manchmal, wenn gerade der Geburtstag von Hitler am 20. April gewesen war, flatterten noch die roten Fahnen an den Häusern. Auch unser Haus hatte eine Fahne. Nach Kriegsende bekamen meine Schwester und ich aus der Fahne je einen Rock sowie für mich noch eine rote Bluse. Fein sollten wir zwei damit aussehen.
Die Glocken unserer Kirche läuteten jeden Sonntag. Die Rembertikirche hatte zwei Glocken. Als kleines Mädchen sah ich genau vom Fenster aus, wie eine der wunderschönen Glocken auf einen Laster gehievt und zum Einschmelzen verladen wurde. Es war ein trauriger Anblick. Pröven-Bewohner und Nachbarn nahmen still Abschied.
Jeden Sonntag morgen war Kindergottesdienst. Unseren Pastor Schomburg mochten wir alle sehr gern. Die Rembertianer hatten eine sehr enge Bindung zu ihrer Kirche. 1942 heulten die Bomber über Bremen. Eine Phosphorbombe traf unsere Kirche.Unser Pastor hat bis zuletzt im Kirchenkeller mit mehreren Pröven-Bewohnern ausgehalten. Daher rühre auch seine Herzkrankheit, erzählte er mir später. 1957 hat er meine Trauung in der neuen Rembertikirche vollzogen.
Die Remberti-Kinder wurden weniger. Einige kamen nach Sachsen mit ihrer Schule, denn es war sehr schlimm mit den vielen Angriffen auf Bremen. Ich hatte den Angriff auf die Rembertikirche und den Bombenangriff im benachbarten Bereich Auf den Häfen erlebt. Als wir aus dem Domshof-Bunker kamen, mussten wir uns die Hände vor Mund und Nase halten. So stark waren der Geruch und Qualm. Unsere Kirche sah wie erleuchtet aus. Teilweise waren die Bleifenster noch heil. Es war fürchterlich und schön zugleich. Alles war rot und hell.
Ich war jetzt quasi die Letzte der Kirchhof-Kinder und langweilte mich sehr. Jetzt wurde fast jede Nacht der Bahnhof bombardiert, nach jedem Angriff waren alle Fensterscheiben kaputt, es war sehr kalt. Mein Vater meinte dann,wenn er mal auf Urlaub daheim war, die Bomber hätten wieder den Bahnhof verfehlt.
Dann hieß es: Beim nächsten Transport kommt Ihre Tochter aus der Stadt heraus. Alle Kinder ihres Jahrgangs sind schon verschickt. Meine Eltern schickten mich mit meinen sieben Jahren in die Oldenburger Gegend. Anderthalb Jahre war ich dort bei Pflegeeltern. Während dieser Zeit verloren wir auch unser Haus am Rembertikirchhof. Meine Mutter und meine jüngere Schwester kamen zu mir. Vom Vati hörten wir lange nichts. Der Fedelhören: Die Geschäfte waren zerstört, die Leute tot oder evakuiert.
1950 kehrten wir zum Rembertikirchhof zurück. Mein Vater kaufte ein nicht zerstörtes Haus. Die Trümmer der Rembertikirche waren abgeräumt und der große Bauplatz ausgehoben. Es kamen Gräber mit Gebeinen zutage. Kinder der neuen Generation spielten damit. Ich weiß bis heute nicht, was das für Menschenknochen waren. Aus welcher Zeitepoche wohl? Mein Vater erzählte mir einmal,wo der Pröven ist, sei früher ein Pestfriedhof gewesen, gleich hinter der Stadtmauer. Wir waren froh, als die Grabstätten zugeschüttet wurden. Rasen wurde gesät, Büsche gepflanzt, eine Sandkiste und einige Ruhebänke aufgestellt. Es sah alles hübsch aus. Meine kleine Tochter spielte gerne in der Sandkiste, wenn wir Opa und Oma einen Besuch abstatteten.
Aber meine Gedanken weilten noch lange bei unserer Rembertikirche und den vielen Häusern, die alle dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Heute gibt es noch das Pastorenhaus, seitlich davon das frühere Gemeindehaus.
Ab 1964 folgte die Enteignung der stehengebliebenen Häuser. Sie sollten der Hochstraße weichen. Es hat sich nach dem Einsturz der Kirche das gesamte Umfeld stark verändert. Die Geschäfte kamen nicht wieder. Der Fedelhören wurde halbiert, die Hochstraße Rembertiring führt hindurch. Verschwunden und vergessen ist das ehemals wunderschöne Viertel.