Zeitzeugen: Vera Knop (Jhg. 1957) erinnert sich mit gemischten Gefühlen an ihren Schulweg in den 60er Jahren.

Mein Schulweg durch das Rembertiviertel
Bis 1967 wohnte ich mit meinen Eltern im Haus Außer der Schleifmühle 84. Ostern 1964 war ich eingeschult worden, und mein Schulweg führte über den Dobbenweg zum Fedelhören, den ich komplett durchqueren musste. Am Ende des Fedelhören ging ich über den Präsident-Kennedy-Platz in die Kohlhökerstraße zur Bürgermeister-Smidt-Schule.

Die 50er und 60er Jahre waren die Zeit, als die Stadtplanung dem Primat des motorisierten Individualverkehrs rigoros untergeordnet wurde. Ein Vorbote von Rembertikreisel und Mozarttrasse war der Ausbau der Centaurenkreuzung Ende der 50er Jahre. Bis dahin war es eine großzügige Kreuzung, deren gestalterischer Mittelpunkt der elegante Centaurenbrunnen war. Die Patrizierhäuser an der Schleifmühle und am Anfang der Schwachhauser Heerstraße verfügten über großzügige, repräsentative Vorgärten. Nun wurde alles abgeräumt, der Centaurenbrunnen wurde in die Neustadt verfrachtet (immerhin hat er überlebt!), die Vorgärten enteignet und zu Verkehrsfläche umgewidmet. Meine Eltern erzählten mir häufig, dass die endlos dauernden Bauarbeiten vorwiegend nachts stattfanden, um den Berufsverkehr tagsüber nicht zu stören. Die Tatsache, dass die Anwohner in weitem Umkreis keine Nacht Schlaf fanden, störte außer den Betroffenen niemanden. Für den Fortschritt mussten Opfer gebracht werden.

Diese Devise galt auch für die zahlreichen Verkehrsunfälle. Mein Kinderzimmer ging mit zwei Fenstern auf die Centaurenkreuzung. Wenn ich am Schreibtisch saß und Hausaufgaben machte, hörte ich häufig die quietschenden Reifen bei Vollbremsungen. Etliche Male krachte es auch heftig. Die Unfallaufnahmen der Polizei bzw. der Abtransport der Verletzten mit Krankenwagen waren ein vertrautes Bild für mich. Irgendwann während meiner Grundschulzeit kam ein Kind bei einem Verkehrsunfall in der Nähe ums Leben. Ich erinnere mich, dass die Erwachsenen von einem tragischen Geschehen sprachen. Meine Eltern waren entsetzt. Das Einüben von richtigem Verhalten im Straßenverkehr war meinen Eltern schon immer sehr wichtig gewesen. Nun wurde ich zu noch mehr Vorsicht angehalten. Einen öffentlichen Aufschrei von Wut und Empörung wie heute bei einem tödlichen Verkehrsunfall eines Kindes gab es damals nicht.

Aber nun zu meinem Schulweg: Wenn ich in drei Etappen die Centaurenkreuzung überquert hatte, passierte ich die Centauren-Apotheke. Auch wenn ich damals noch nicht wusste, dass es sich um eine Fassadengestaltung im Stil des Expressionismus handelt, so fand ich das Haus sehr aufregend. Damals trug die Fassade noch eine Leuchtreklame, ich glaube, für „Progress“-Hausgeräte. Neben dem Apothekenschaufenster war der Praxiseingang von Dr. Hayek. Er war Frauenarzt und Geburtshelfer. Dr. Hayek war Flüchtling aus der Tschechoslowakei und hatte in Bremen eine neue Heimat gefunden.

Am Ende des Dobbenwegs war die Haltestelle der Linie 4. Das erste Geschäft rechts um die Ecke (also schon Am Dobben) war ein Tabakwarenladen, in dem mein Vater seine Roth-Händle-Zigaretten kaufte. Der Laden war sehr klein und düster. Daneben lag das Obst- und Gemüse-Geschäft von Lackewand. Das Ladenlokal war hell und offen, in Pastellfarben gestrichen. Etwas weiter war der Friseur Kießling, der als teuer und modern galt. Daneben gab es den Lebensmittelladen Trias, der von Herrn Hinken geführt wurde. Dort bestellten meine Eltern einmal die Woche telefonisch Lebensmittel, die uns ins Haus geliefert wurden. Wenn zwischendurch etwas fehlte, ging meine Mutter dorthin und kaufte es. Ich erinnere mich an einen späten Nachmittag, an dem meine Mutter sehr ungehalten wiederkam von Trias. Sie hatte einige vergessene Lebensmittel einkaufen wollen, der Verkäufer hatte sich aber geweigert, ihr die Dinge auszuhändigen. Stattdessen hatte er meiner Mutter einen Drahtkorb in die Hand gedrückt und sie aufgefordert, sich die gewünschten Artikel selbst aus den Regalen zusammenzusuchen. Unsere erste Begegnung mit der alsbald um sich greifenden Selbstbedienung!

Nun aber weiter auf meinem Schulweg: Vor dem Tabaklädchen musste ich die Gleise von „4“ und „10“ überqueren. Dort gab es keine Ampel, zudem bog die „4“, aus Schwachhausen kommend, mit Schwung um die Ecke und hielt genau in der engen Kurve. Nach den Schienen kam noch der Ampelübergang, bis ich schließlich auf der anderen Straßenseite angekommen war. Dort standen alte Häuser sowie auch Neubauten, wie z.B. das Haus von Zahnarzt Dr. Eikermann, wenn ich den Namen richtig erinnere. In einem der Häuser war im Keller ein kleines Blumenlädchen eingerichtet, in dem wir im Frühjahr und Sommer unsere Stiefmütterchen und Petunien für die Balkonbepflanzung kauften. Weiter ging es in den Fedelhören. An der Ecke war die Gaststätte „Dobben-Eck“, wie damals üblich mit nicht einsehbaren Fenstern. Etwas weiter hatte die Firma Thews & Clüver ihren Sitz. Der Fedelhören war eine ruhige Straße, hier und da ein kleines Geschäft. Ich erinnere mich an die „Stempelfabrik Adolf Gamper“. Ich glaube, der Laden lag an der Ecke Sonnenstraße. Auf der rechten Seite kam dann der Haushaltswarenladen von Herbert Pansch. Am bemerkenswertesten erschien mir damals, dass das Geschäft in zwei verschiedenen Häusern untergebracht war. In dem einen Ladenlokal hat sich später das „Café Grün“ etabliert. Bei Pansch gab es u.a. Wannen zum Wäschewaschen oder größere zum Baden aus dem Kunststoff Hostalen, damals das Neueste und Teuerste. Wir hatten auch einige davon. Verglichen mit den herkömmlichen Zinkgefäßen waren sie natürlich leichter und einfacher zu handhaben.

Auf der rechten Seite kam der schmiedeeiserne Eingang zur Mittelschule. Das Gebäude mit seinem Schulhof davor war schon damals eine idyllische Oase. Dazu trug auch bei, dass die Schülerinnen dort sehr damenhaft herumspazierten statt zu toben. Auf der gegenüberliegenden Seite kamen dann einige Ruinengrundstücke, die straßenseitig mit Reklametafeln verstellt waren, danach folgten rechtsseitig schmucklose Neubauten mit Ladengeschäften.  Am Präsident-Kennedy-Platz stand das amerikanische Konsulat.

Irgendwann veränderte sich mein Schulweg. Häuser verschwanden einfach. Ich hörte die Erwachsenen darüber reden. Besonders empört waren sie über den Abriss des keine 15 Jahre alten Hauses von Zahnarzt Dr. Eikermann. Ich weiß noch, dass ich mich schon damals fragte, wieso der Abriss eines neuen Hauses schlimmer sei als der eines alten. Mein Schulweg wurde für mich zum Alptraum. Ich hatte panische Angst vor den großen Baumaschinen, besonders den Abrissbaggern.

1967 zogen wir in die Stader Straße, und ich sah die Überreste des Rembertiviertels erst Jahre später wieder, nun schon mit dem fertigen Kreisel bzw. der anschließenden Hochstraße. Von der schönen Sonnenstraße waren nur noch zwei traurige Stummel geblieben. Auf dem Grünstreifen zwischen Eduard-Grunow-Straße und Ernst-Glässel-Straße stand bis vor wenigen Jahren noch ein alter Baum, der ursprünglich in einem Garten der Sonnenstraße zuhause gewesen war. Er hatte als einziger den Kahlschlag, dem Häuser und Gärten zum Opfer gefallen waren, überlebt.