Zeitzeugen: Irmel Dolman-Berberich (Jhg. 1937) bekam von ihrer Nichte einen Weser-Kurier Artikel über das ehemalige Rembertiviertel in die Niederlande geschickt, wo sie heute lebt. Sie mailte daraufhin Auszüge aus Ihren, für den Familiengebrauch niedergeschriebenen Kindheitserinnerungen. Ihre Großeltern Paul und Erna Rahner wohnten von den 30er Jahren bis zum Abbruch des Hauses für den Rembertiring auf dem Fedelhören 27. Ihr Großvater war Fahrradmechanikermeister, sein Meisterbrief hing im Laden. Rechts neben den Großeltern war das Hotel Bohle. Als Kind und in ihrer Jugend kam sie sehr regelmäßig zu den Großeltern und hatte sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Weil alles aus der Erinnerung aufgeschrieben ist, und aus der Sicht eines Kindes, ist sicher manches ungenau.

Auszug aus „ERINNERUNGEN“
Opa war Fahrradmechaniker und hatte ein wunderschönes Haus im Gründerjahresstil mit einem Laden, einem Durchgang durch das Souterrain unter dem Haus zur Werkstatt, einem frei stehenden Hinterhaus mit einer Etage darüber. Zwischen dem Wohnhaus und der Werkstatt war der Garten, wo ein großer Birnbaum stand, die gute Luise. Es gab auch ein paar Blumen, Kräuter, ein Goldregen und links ein Hühnerauslauf beinahe über die ganze Länge des Hinterhofes. Vor der Werkstatt war ein Arbeitsplatz draußen, wo Opa die Fahrräder an einer Stange aufhängen konnte. Er arbeitete meistens draußen, denn in der Werkstatt war es ziemlich dunkel. Nur im Winter arbeitete er drinnen. Da stand ein kleiner Kohlenofen, aber richtig warm wurde es da nicht.
Ich sehe die Werkstatt noch so vor mir mit all den Zangen und anderen Werkzeugen, den Speichen, den alten Ketten und Zahnrädern. Opa war sehr sparsam und bewahrte alles, was noch von Nutzen sein könnte. Ich habe später in München im Deutschen Museum genau so eine Werkstatt gesehen.
Sie wohnten nicht alleine in dem großen Haus, aber darüber später. Nur eines noch über Opas Haus: es musste etwas Schweres auf dem Haus ruhen, aber das konnte man nicht sehen, das war die Hypothek.

Als mein Bruder Udo am 6.September 1942 geboren wurde, kam ich drei Monate zu den Großeltern, weil meine Mutter mit dem Baby so lange im Krankenhaus bleiben musste.

Wohnen bei Oma und Opa ( ich war 5 Jahre alt)
Ich blieb die ganze Zeit bei Oma und Opa und wurde schön verwöhnt, soweit das damals möglich war. Ab und zu musste Oma für Fahrrad-Ersatzteile zum Großhandel „Gebrüder Sie“. Dann blieb ich zu Hause und musste beschäftigt werden. Von Oma hatte ich häkeln gelernt, vorläufig nur Schlingen. Sie gab mir ein großes Knäuel Wolle und eine Häkelnadel, und ich durfte häkeln. Es wird wohl eine Weile gedauert haben, ehe Oma wieder nach Hause kam. Ich war ganz stolz, denn ich hatte den größten Teil der Wolle in eine endlose Strähne verändert, die einen richtigen Berg formte. Wie enttäuscht war ich, als Oma von meinem Fleiß ganz und gar nicht begeistert war: “ach Irmilein, was hast du denn da gemacht? Davon wollt ich doch für Opa ein Paar Socken stricken.“ Man muss wissen, dass Wolle so wie beinahe alles auf Marken verkauft wurde. Und da hatte ich die kostbare Wolle zu einer langen Schnur verarbeitet. Ich weiß nicht, ob Oma das Knäuel wieder „ausgetüdelt und ausgeribbelt“ hat…. Ein Andermal kriegte ich ein dickes verwickeltes Knäuel von vielem verschiedenen farbigen Wollresten. Mit meinen kleinen Fingern holte die alle auseinander und wickelte sie zu kleinen Bällchen. Beide Sachen, das Häkeln aber auch das „Auseinanderpulen“ und Sortieren von kleinen Dingen tue ich eigentlich bis auf den heutigen Tag gerne. Und immer sehe ich dabei das rote Plüschsofa und das große „Vertiko“ im Wintergarten vor mir.
Übrigens war die Wohnung von Opa und Oma sehr klein, denn aus Sparsamkeit und wahrscheinlich wegen der Hypothek war der Rest des Hauses über uns vermietet.
Wir wohnten auf dem Hochparterre. Da war eine kleine dunkle Küche, denn es gab kein Fenster, daneben ein ebenso dunkles Schlafzimmer, wo das Hitlerbild hing, ein Furcht erregender Mann, der ab und zu hässlich aus dem Radio schrie, und danach schrien immer sehr viele Leute:
„Sie Haai, Sie Haai, Sie Haai!“ (Sieg heil!)
Vom Schlafzimmer aus gab es einen Durchgang in den Laden. Dafür musste man auf einer steilen Treppe nach unten gehen und war dann auf Straßenhöhe. Vor dem Schlafzimmer zur Gartenseite hin war der „Wintergarten“, aber der wurde als Wohnzimmer benutzt. Da stand das Plüschsofa mit dem Wohnzimmertisch und ein paar Stühlen. Wer auf dem Sofa saß, konnte kaum über den Tisch gucken und kriegte ein Kissen zum Sitzen. Gegenüber stand das Vertiko, ein halb hohes Buffet aus schönem dunklen Holz. Später, Anfang der 60er Jahre hatte Oma das Vertiko durch ein undefinierbares Möbelstück vom Neckermann ersetzt. Das Vertiko hatte sie zusammen mit dem Sofa auf die Straße zum Sperrmüll gestellt, aber ein junger Mann hatte angeklingelt und gefragt, ob er es mitnehmen dürfte, er wollte ein Antikgeschäft anfangen. Kurz danach war auf dem Fedelhören Ecke Contrescarpe ein Antikgeschäft. So geht das! Aber ehrlich gesagt: damals war ich nicht auch nicht an dem „alten Gerümpel“ interessiert. Tut mir nachträglich sehr leid!

Damals, 1942 schlief ich auf dem Sofa und über mir hing die Kuckucksuhr. Ich war bange vor der Uhr, wo mitten in der Nacht auf einmal ein kleines Türchen aufgehen konnte, ein Etwas raus kam und „Kuckuck“ rief. Ich muss damals schon so kurzsichtig gewesen sein, denn das Vögelchen habe ich nie erkannt. Und deshalb war es wohl auch so unheimlich.

Irmel Dolman-Berberich, Anf. 40er Jahre. Quelle: I. Dolman-Berberich
Irmel Dolman-Berberich, Anf. 40er Jahre. Quelle: I. Dolman-Berberich

Das Klo war unten im Souterrain beim Durchgang zur Werkstätte. Da war auch der große Keller, wo wir nachts Unterschlupf suchen. Opa hatte ihn mit dicken Stämmen gegen Einsturz gestützt. Es war wohl eigentlich der Kohlenkeller, denn es gab zur Straße hin eine Luke die von draußen mit einem weißen, Licht gebenden Pfeil angegeben war, für den Fall, dass das Haus bombardiert war. Dann wusste man, wo man Überlebende suchen konnte.

Über uns wohnten Herr und Frau Borchers, ihre Wohnung war eine ganze Etage, also ziemlich groß. Damals bin ich niemals oben gewesen, aber nach dem Krieg, als Opa 82 Jahre alt war und nicht mehr arbeiten konnte, weil er dement wurde, zogen Oma und Opa nach oben: es gab ein Wohnzimmer zur Straße hin, ein Nebenzimmer, nach hinten ein Schlafzimmer und eine Küche, alles schön hell. Die Borchers waren ‚weg’.
Auf der zweiten Etage wohnte Fräulein Hasemann, damals Mitte Dreißiger, mit blondierten Locken und Lippenstift. Sie war in Krisenzeiten in die USA ausgewandert, aber und auf nachdrückliche Einladung des Führers wieder „heim ins Reich“ gekommen. Aus Amerika hatte sie außer Lippenstift und blonden Locken auch ‚OKAY’ mitgebracht. Den weiteren Rest ihres Lebens hat sie den ‚American dream’ geträumt: O wie gerne wollte sie wieder zurück, aber jeder Antrag wurde nach dem Krieg abgewiesen.
Weiter wohnte auf der Etage auch noch Fräulein Dathe, ich denke eine pensionierte Lehrerin. Auch da bin ich nie gewesen, außer viel später, als ich selber Lehrerin war und in dem kleinen Dachzimmerchen, das auch zu Fräulein Dathes Wohnung gehört hatte, wohnte.

Walter

Wenn Alarm war, kamen wir alle im Keller zusammen. Und auf einmal war da auch Walter, ein Neffe von Fräulein Dathe. Ich denke, dass er so ungefähr 18 Jahre alt war, schlank, dunkle Haare, dunkle Augen, sehr blass und sehr still. Ich weiß nicht ob Erwachsene sich darüber im Klaren sind, was Kinder von fünf Jahren alles wissen und begreifen können. Ich wusste von Anfang an, dass Opa nicht sehr glücklich mit der Anwesenheit von Walter war. Nicht dass er etwas sagte oder Streit mit Frl. Dathe anfing, aber…
Und dann kam der schreckliche Bombenangriff auf unser Viertel, als die Rembertikirche um die Ecke getroffen wurde. Ein großer Teil der Rembertistraße und auch vom Fedelhören, zwei Häuser von uns entfernt, waren ausgebomt. Im Keller war es beängstigend. Das ganze Haus bebte und schwankte. So muss es bei einem Erdbeben sein. Da fingen die Frauen an zu weinen und meine Oma betete das Vaterunser. In meiner Angst kroch ich unter den Stuhl von Walter. Da nahm er mich auf den Schoß und nahm mich kräftig in die Arme. Ich war getröstet und fühlte mich sicher – und ich war verliebt in Walter! Meine erste Liebe!
Am nächsten Tag fragte ich Oma, ob ich Walter oben besuchen dürfte, aber davon war nicht die Sprache! Er war bei Frl. Dathe zu Besuch, und er war sehr krank gewesen, darum war er nicht Soldat geworden und vielleicht war er ansteckend und weiter: „kein Wort mehr davon!“ Ich habe niemals mehr nach Walter zu fragen gewagt. Nur hoffte ich im Stillen, dass noch mal so ein schrecklicher Bombenangriff käme und dass wir einander dann im Keller wiedersehen würden und ich wieder bei ihm auf dem Schoß sitzen dürfte.
Wohl habe ich einmal Opa etwas sagen gehört, woraus ich verstand, dass ‚er’ weg musste, das ging nicht, das war zu gefährlich…
Wer war Walter? Hatte Fräulein Dathe jemanden versteckt? War es überhaupt ihr Neffe? Niemand weiß es, niemand kann es jemals erzählen, denn von allen die damals im Keller waren, lebt nur noch eine: ich – oder Walter noch?

Jede Nacht im Schutzkeller
Nach dem katastrophalen Bombardement im Rembertiviertel fanden Opa und Oma es nicht mehr sicher genug, im eigenen Schutzkeller zu bleiben. Kurz nach dem Luftangriff hatte Opa einen Platz im Keller am Domshof gepachtet. Sie hatten da ein Zwei-Personenbett auf der unteren Etage eines dreifachen Etagenbetts. Von dem Augenblick an, gingen wir jeden Abend in den Schutzbunker und gingen jeden Morgen wieder früh nach Hause. In meiner Erinnerung hatten wir einen festen Schlaflatz für jeden Tag von 6 bis 6 Uhr. Wir liefen vom Fedelhören durch die Wallanlagen auf den Theaterberg, dann durch die Bischofsnadel, eine ganz schmale Straße, die früher dem Bischof vorbehalten war. Und am Ende davon war der Eingang zum Bunker. Ich glaube, dass der Eingang noch immer da ist.
Beim Eingang wurde ein Zugangspass kontrolliert und dann ging man zu seiner festen Stelle. Die Akustik in dem Keller war sehr gedämpft, denn die Decke war ziemlich niedrig, und es waren viele Leute dicht bei einander untergebracht. Jeder hatte seinen Koffer mit den Papieren, Schmucksachen, oft auch Familienalben und andere besondere Wertgegenstände bei sich, aber auch Reservekleidung. Man konnte ja nie wissen, ob das Haus noch steht. Seltsamerweise ließ niemand persönlichen Besitz im Keller zurück, wahrscheinlich aus Misstrauen der anonymen Masse gegenüber.
Das Licht war auch sehr sparsam. Man konnte nur richtig lesen, wenn man in der Nähe einer Lampe einen Sitzplatz ergattern konnte. Ich musste natürlich früher schlafen und weiß nicht genau, was man des Abends tat. Man unterhielt sich natürlich mit Leuten aus der Nachbarschaft, aber man spielte auch Karten, sicher viel Skat.
Ich schlief bei Oma im Bett, denn für mich war kein extra Schlafplatz reserviert. Ich würde sowieso bald wieder nach Hause gehen, wenn Mutti aus dem Krankenhaus kam. Das es doch bis Dezember dauern sollte, hatte niemand erwartet.
Morgens in aller Frühe, wenn es noch dunkel war, liefen wir wieder mit unserer Habe nach Hause. Opa und Oma haben das von 1942 bis 1945 jeden Tag getan. Nur zu Weihnachten wenn Waffenstillstand war, konnte man zu Hause bleiben.

In den 50er Jahren hatte das Fotogeschaeft Mannewitz den Laden gemietet. Quelle: I. Dolman-Berberich
In den 50er Jahren hatte das Fotogeschaeft Mannewitz den Laden gemietet. Quelle: I. Dolman-Berberich