Zeitzeugen: Roswitha Wahl (geb. 1937 in Königsberg) erinnert sich an ihre Kindheit im Rembertiviertel.
Wir sind im Winter 1945/46 als Flüchtlinge nach Bremen gekommen. Meine Tante wohnte hier, darum sind wir dann auch hierher gekommen. Damals war ich acht Jahre alt. Erst haben wir ein paar Monate bei meiner Tante gewohnt in der Bleicherstraße und dann haben wir eine Wohnung bekommen in der Slevogtstraße. Da wir fünf Mädchen waren, kriegten wir eine Riesenwohnung in diesen Altbremer Häusern, und dann mussten wir sofort in die Remberti-Schule; eine andere Schule gab es ja nicht in der ganzen Gegend. Und dadurch bin ich eigentlich im Remberti-Viertel aufgewachsen, weil da meine ganzen Schulfreundinnen waren und da hat sich dann alles abgespielt. Die wohnten auch fast neben der Remberti-Schule und dem Stift.
Damals waren ja noch überall Trümmer. Den Rembertiring, den müssen Sie sich ganz wegdenken. Da hatte die Kirche gestanden. Da sahen Sie aber auch nichts mehr von der Kirche – nur Trümmer. Und wir haben natürlich immer drin rumgespielt. Und dann fanden wir Knochen, Menschenknochen! Das war der Renner: Jeden Tag suchten wir danach – wenn das meine Mutter wüsste, wie wir da in den Trümmern gewühlt haben! Wie gefährlich das auch war! Aber hochinteressant…
Das Rembertistift war immer unser Durchgang, hinten zur Remberti-Schule war ein Hintereingang; da konnte man durchgehen. Da waren so kleine Häuschen, und da war ein kleiner Durchgang zum Schulhof. Und dann sind wir durch das Rembertistift. Da steht ja jetzt auch noch der tolle Baum, der war damals schon toll – der musste ja erstmal erstmal beklettert werden. Na, und die Damen, die dort wohnten – da wohnten ja alles alleinstehende alte Damen. Jede hatte ihr Häuschen. Vorne war so ein kleines Stück, wo gerade ein Stuhl drauf passte, mit mehreren Stufen, und dann saßen die alten Damen da. Und wenn wir auf den Baum geklettert sind, was gab es da immer für Schimpfe von den alten Damen! Und wenn die dann mal wieder zu doll geschimpft haben, dann sind wir auf die Trümmer gegangen, haben die Trümmerblumen abgepflückt und dann kriegten sie die Trümmerblumen. Dann durften wir mal wieder klettern.
Das Rembertistift war so anziehend. Irgendwie habe ich immer gedacht: Die alten Damen sitzen da immer alleine. Ich bin da also so oft hingegangen. Das war immer ein Anziehungspunkt.
Die Remberti-Schule habe ich nicht so gut in Erinnerung. Wir waren Flüchtlingskinder, und das war so eine Schule mit Kindern, die eben von Anfang an zusammen waren. Die Eltern sind da zur Schule gegangen oder vielleicht sogar die Großeltern und jetzt die Kinder – und nun kamen wir Flüchtlingskinder. Damals war „Flüchtling“ schon genau so schlimm wie es heute schlimm ist. Auch da gab es Mobbing, und da wurden wir „gemobbt“, wie man heute sagt. Wir durften nicht mal einen schönen Apfel in der Hand haben, dann hieß es schon: Och, die haben einen Apfel! Obwohl die alle in meiner Klasse in der Gegend wohnten und noch die kleinen Läden hatten, die konnten natürlich der Lehrerin immer was mitbringen. Die hatte ja auch nichts!
Die Läden waren da alle noch erhalten. Neben der Remberti-Schule sind auch jetzt noch welche. Das waren alles kleine Geschäfte: Lebensmittel, Haushaltswaren, Bäcker – das waren alles so ganz kleine niedliche Läden. Auch ein Schreibwarengeschäft, wo es bis zur Währungsreform gar nichts gab…
Meine Mutter arbeitete in einem amerikanischen Laden – da brachte sie manchmal Reste mit, die hat Sie uns zum Frühstück mitgegeben. Dann hatten wir in der Pause was. Leisten durften wir uns nie was! Aber das war so: typisch Remberti! Das war ja noch so eine Clique. Die waren alle irgendwie vermögend; und das haben sie auch gezeigt.
Das müssen Sie sich mal vorstellen: Da komm‘ ich in eine Klasse, das war die dritte Klasse. Meine Mutter war ganz geschickt, die konnte aus Schiete Rosinen machen. Dann hatten wir Kaninchen gehabt in Thüringen, damit wir was zu Essen hatten, und aus dem Fell hatte sie uns dann Kragen gemacht für den Winter. Dann hatten wir alle weiße Kaninchenkragen. Das hatte ja nichts gekostet. Und weil wir die weißen Kragen auf hatten, sahen wir natürlich gepflegt aus. Keiner sollte sehen, dass wir Flüchtlinge waren. Und dann kam ich also da rein als Flüchtlingskind, und dann machten die immer irgendwelche Bewegungen und die Lehrerin spielte Geige dazu. Na, ich komme da neu an, ich denke natürlich, die machen sich warm, weil ich das so in Thüringen gesehen hab, immer, wenn so ein Kutscher da stand, der sich die Arme so eingeschlagen hat. Und ich habe das dann auch so gemacht. Und dann kriegte ich jeden Morgen mit dem Geigenstock über die Finger, weil ich das nicht richtig machte. Anstatt mir das nun zu sagen, dass sie den Takt schlagen! Ich kriegte vier oder sechs Wochen lang jeden Morgen mit dem Geigenstock auf die kleinen Finger, bis ich dann einmal ohnmächtig geworden bin – vom Schmerz und vom Hunger. Dann hörte das auf.
Es hat mit mir die erste Zeit keiner gesprochen, die hatten ja alle ihre Freundinnen, die gingen ja nun schon drei Jahre zur Schule, dadurch war ich alleine und konnte auch niemanden fragen. Mit neun Jahren fragst Du nicht.
Die Rembertigemeinde war in einem Bunker beim Bahnhof. Gleich da vorne, wo jetzt das neue Hotel ist, da war ein Bunker. Da sind wir immer hingegangen. Meine Mutter war ja immer froh, wenn fünf Kinder irgendwo untergebracht waren. Dann hat sie uns überall hingeschickt.
Wir hatten eine riesengroße Wohnung, da konnten wir tanzen und toben. Bloß: Es war eben keine Heizung da drin. Was meinen Sie, wie wir da im Winter gefroren haben! Wenn Sie mal aus Versehen ein Wasserglas haben stehen lassen, das ist im Winter geplatzt! Das war ein richtig tolles Altbremer Haus, und die Besitzerin wohnte oben unterm Dach; sie musste das alles vermieten. Und da wir fünf Kinder waren, kriegten wir diese große Wohnung. Eisig, das hab ich noch gut in Erinnerung. Und dann zur Schule – jeder hatte das gleiche Schicksal: Wenn Du keine Kohle mitgebracht hast, dann durftest Du nicht zur Schule kommen. Das war für meine Mutter natürlich wichtig, dann haben wir also gefroren.
Damals haben wir uns immer so rumgetrieben auf der Straße. Das war ja ganz anders als heute, da waren immer alle Kinder zusammen – manchmal acht oder zehn Kinder. Heute kriegt man nicht mal zwei zusammen. Meine Freundinnen wohnten alle gleich neben der Schule, und so haben wir da immer gespielt. Da konnte man ja noch auf der Straße spielen.
Gegenüber vom Rembertistift, wo jetzt das große Eckhaus ist, war ein Trümmerhaus. Alles war kaputt, aber wir sind da immer reingeklettert – einfach so über den Zaun. Für uns Kinder war das kein Problem, weil da noch zwei Obstbäume standen, Renekloden und noch irgendwas, da weiß ich nicht mehr. Dann haben wir uns in die Bäume gesetzt und so richtig schön die Pflaumen gegessen, da kam auch nie jemand. Ich weiß nicht, wem das Haus gehört hat. Da hat keiner geschimpft. das war toll! Da hatte man wenigstens Obst! Da waren noch ganz viel Trümmer bis zum Bahnhof hin.
Später bin ich zur Schule in der Kleinen Helle gegangen. Wir sind über Stock und Stein gegangen, vom Bahnhof an, das Museum stand da noch, aber sonst war da alles Trümmer. Das ging hoch bis zur Rembertistraße, die ganzen Trümmer. Aber manchmal hatten sie auch ihre Vorteile, diese Trümmer. Dadurch hatten wir immer ein bisschen Geld nachher, als wir größer waren. Dann haben wir nämlich aus den Trümmern alles rausgeholt, was man abhauen konnte, Alteisen und so was alles. Im Viertel war ein Alteisenhändler, da haben wir immer diesen Schrott hin gebracht, Heizungen abmontiert, Bleirohre rausgezogen – und dann hatten wir Geld für den Freimarkt.
Dieser Beitrag wurde erstellt von einer Arbeitsgruppe der Rembertigemeinde um den Pastor Dirk von Jutrczenka.